Zocken auf den Hunger
Studie räumt mit Vorurteilen über Spekulanten am Agrarmarkt auf / Preise werden von Knappheit getrieben
Während die globale Hungersnot weiter eskaliert, mischen Spekulanten die Märkte auf und machen Grundnahrungsmittel immer teurer. So lauteten die Schlagzeilen dieses Sommers, als die Preise für Weizen und Co erneut gestiegen sind. Erst kürzlich haben zwölf deutsche Nichtregierungsorganisationen, darunter auch die Welthungerhilfe, das Bundesfinanzministerium zu „entschlossenem Handeln“ aufgefordert, um der durch die Spekulanten ausgelösten Preistreiberei den Garaus zu machen.
Eine Studie der Universität Halle räumt jetzt mit diesem Vorurteil auf. Nach der Auswertung von insgesamt 35 Forschungsarbeiten, die zwischen 2010 und 2012 veröffentlicht wurden, halten die Hallenser Wissenschaftler um den Wirtschaftsethiker Ingo Pies, den Einfluss von Spekulationsgeschäften auf die Agrarpreise für unerheblich. Einhellig ist man nach Auswertung empirischer Studien zu dem Urteil gekommen, dass die Zunahme der Finanzspekulation in den letzten Jahren nicht für Preissteigerungen am Agrarmarkt verantwortlich ist. Auch Preisschwankungen (Volatilitäten) werden nicht den Spekulationen auf den Terminmärkten zugeschrieben. Für die Preisbildung machen die Experten in erster Linie realwirtschaftliche Faktoren verantwortlich. In den Augen von Wissenschaftler Pies ist der Preisanstieg aktuell auf Ernteausfälle und die Produktion von Biosprit, also einer Verknappung des Angebotes, zurückzuführen. Ein Verbot oder eine Eingrenzung der Spekulation hat keinen Preis senkenden Einfluss, sind sich die Wissenschaftler einig. Auch der Agrarökonom Harald von Witzke ist der Auffassung, dass Spekulationen die Preise allenfalls sehr kurzfristig, etwa auf Tagesbasis, beeinflussen.
Börsenmakler Hans Jürgen Kiefer meint von jeher, Börsengeschäfte seien ein wichtiges Absicherungselement für die Marktbeteiligten und Banken sorgten in diesem Business für ausreichende Liquidität, ohne die Preise zu treiben. In den Vereinigten Staaten ist man der Diskussion um die Börsenspekulation so entgegengekommen, dass die wöchentlich gehandelten Positionen, aus denen sich die Börsenteilnehmer ablesen lassen, von der Börsenaufsicht (CFTC) veröffentlicht werden. Dieses Modell hält Makler Kiefer auch in Europa für denkbar. Allerdings befürchtet er, dass die europäische Regelungswut einen stärkeren Einfluss auf den Börsenhandel nimmt als für diesen gut ist.
Schon vor 100 Jahren wurde eine ähnliche Debatte geführt. An der Berliner Börse durfte zum 1. Januar 1897 nicht mehr auf Weizen spekuliert werden. Die Wirkung damals war desaströs. Die Weizenpreise gingen auf und ab. Durch die Regulierung konnten sich die Bauern nicht mehr mit Finanzprodukten absichern. Es wurde damals zu einem Glücksspiel, an welchen Tag man die Ernte einfuhr und zu welchen Preisen verkaufte. Drei Jahre später wurden die „verbotenen“ Termingeschäfte wieder erlaubt.
Die Hallenser Wissenschaftler sind mit ihrer Meinung in Fachkreisen nicht allein. Spekulationen an den Agrarmärkten sind wirtschaftlich sinnvoll und auch moralisch erwünscht. Denn sie erlauben, den Produzenten ihre Preise abzusichern und den Investoren, etwas daran zu verdienen. „Wer den Hunger in der Welt wirksam bekämpfen will, muss realwirtschaftlich dafür Sorge tragen, dass das Angebot an Nahrungsmitteln auf absehbare Zeit mit der steigenden Nachfrage Schritt halten kann“, kommentiert Wissenschaftler Pies die Marktsituation.
Das Einführen von Regulationsmechanismen auf den Terminmärkten sollte nicht „unbedarften Fachleuten“ überlassen werden. Der Vorteil, den die Börse allen Beteiligten bietet, würde damit zunichte gemacht. Das hat die Geschichte bereits deutlich gemacht.
Brigitte Braun-Michels